- 23. April 2024
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Leben ohne Schule – Freilernen auf Reise
„Naaa. Gehst du denn auch schon zur Schuuule?“, fragte eine ältere Dame Lenni, als wir nach über zwei Jahren Weltreise das erste Mal wieder zu Besuch in Deutschland auf Heimatbesuch waren.
Seine trockene Antwort:
„Nein, dafür hab ich gar keine Zeit!“
(sehr zum Entsetzen der Omi )
Aber genauso ist es: Lenni lernt ständig. Und überall. Sich jeden Tag viele Stunden an einem immer gleichen Ort in einem Gebäude aufhalten? Klingt nicht verlockend und auch nicht logisch für ihn. Er lebt nach dem Konzept des Freilernens. Oder man könnte es auch „Worldschooling“ nennen.
Er kennt das Konzept Schule nur theoretisch. Er war drei Jahre alt, als wir Deutschland verlassen und auf Open-End-Reise gegangen sind. Damals ging er in den Kindergarten, aber seine Erinnerungen daran sind nicht mehr wirklich vorhanden. Seitdem wir reisen, lassen wir ihn immer mal wieder in Schulen überall auf der Welt hereinschnuppern. Es ist nicht so, dass wir Schule per se ablehnen. Ganz im Gegenteil – wir haben bereits (aus unserer Erwachsenensicht) absolut großartige Schulen und Bildungsformen auf dieser Welt kennengelernt. Bisher hat Lenni sich aber immer gegen den Besuch einer Schule entschiedenf. Bewusst. Nicht aus Trotz oder Frust. Er ist Freilerner mit Leib und Seele.
Homeschooling vs. Freilernen
Aber beginnen wir von vorne: In Deutschland gibt es gar keine andere Wahl, als mit rund sechs Jahren in die Schule zu gehen. Demnach ist für viele, die in Deutschland aufwachsen, Bildung zwangsläufig an einen Schulbesuch geknüpft. Grund dafür ist die Schulpflicht – die, auch wenn es vielen nicht bewusst ist, gar nicht so „normal“ ist. Selbst in den Nachbarländern um Deutschland herum gibt es meist lediglich eine Bildungspflicht, nicht aber eine Schulpflicht, wie sie in Deutschland herrscht. An dieser Stelle lohnt sich ein Blick über den Tellerrand – denn was für uns Deutsche so selbstverständlich erscheint, ist es in anderen Ländern weiß Gott nicht.
Zu den rechtlichen Rahmenbedingungen und welche Formen von Bildung es außerhalb Deutschlands beziehungsweise auf Reise lebend gibt, haben wir in einem E-Book „Weltreise mit Kids – Bildung & Schulpflicht“ zusammengefasst:
Das ist der perfekte Einstieg für alle, die ganz neu im Thema sind und sich erstmal einen Überblick verschaffen wollen, welche Bildungsformen es auf Weltreise geben kann und wie es um die Schulpflicht steht. Darin beschreiben wir auch, was Homeschooling und Freilernen voneinander unterscheidet.
- Keine Schule = Kein Abschluss? Was viele zum Thema „keine Schule“ am meisten interessiert, nehmen wir an dieser Stelle mal vorweg: Ja, einen Schulabschluss zu machen, der in Deutschland als Berufszugang nötig wäre, kann trotzdem erworben werden – auch wenn man nie eine Schule von innen gesehen hat. Externistenprüfung ist hier das Stichwort.
Welchen Preis hat (gute) Bildung?
Jeder, der uns auf unserer Reise ein wenig verfolgt, weiß, dass wir nicht nur in zivilisierten, modernen Ländern unterwegs sind und dort in „Schicki-Micki-Hotels“ leben, sondern auch in sogenannten Dritte-Welt-Ländern inmitten der Locals wohnen. Monatelang haben wir in Afrika Wand an Wand umgeben von Menschen gewohnt, die weder Strom noch fließend Wasser oder eine Toilette hatten. Und wir mittendrin. Aber mit Strom. Und sogar mit zwei Toiletten und (meistens) warmer Dusche.
Ja, das macht etwas mit einem… Aber darum soll es jetzt nicht gehen. Fakt ist: Wir treffen in unserem alltäglichen Leben auf Reisen jeden Tag Menschen, die sich nach kostenloser Bildung auf einem Niveau, das im internationalen Vergleich nicht schlecht dasteht, sehnen. Wir beobachten tagtäglich überall auf der Welt Kinder, die nicht zur Schule gehen. Kinder, deren Eltern sich den Besuch einer Schule nicht leisten können oder die im Familienbetrieb mit anpacken müssen. Kleine Kinder, die jeden Tag ganz alleine viele Kilometer zu Fuß zur Schule laufen, weil sie unbedingt hingehen wollen. In der Hoffnung auf Bildung und ein besseres Leben…
Ja, wir sind uns des Privilegs kostenloser Bildung, wie es in Deutschland Status Quo ist, absolut bewusst. Heute – nach mehr als drei Jahren Reise und über zehn verschiedenen besuchten Ländern – noch deutlich stärker als damals, sesshaft in Deutschland. Es gibt überall auf der Welt großartige Schulen, keine Frage. Aber internationale und/oder freie Schulen im Ausland kosten schnell mal 1.000 Euro im Monat pro Kind – in Deutschland hingegen gibt es Bildung für alle kostenlos. Klingt doch super! Aber nun ja, das hat eben trotzdem auch irgendwie seinen Preis…
Das deutsche Schulsystem ist natürlich nicht nur rosig. Wie alles im Leben gibt es auch hier zwei Seiten einer Medaille: Viele Deutsche empfinden das dreigliedrige Schulsystem aus Haupt-, Realschule und Gymnasium als zu starr, zu unflexibel und sehen es zudem im Verdacht, vorhandene soziale Ungleichheiten noch zu begünstigen. Eltern und Kinder gleichermaßen klagen über viel zu große Klassen, in denen kaum bis wenig Raum für den Einzelnen und seine individuellen Talente ist. Persönliche Stärken und Schwächen können halt leider nicht wirklich gefördert werden, wenn das Ziel, „die Masse durchzubringen“ erreicht werden soll. Viele Kids fühlen sich gestresst durch die Schule, bekommen das Gefühl, nicht gut (genug) zu sein und erfahren zudem nicht selten Mobbing. Freiraum für kreatives Lernen und persönliche Entwicklung: Leider oft Fehlanzeige.
Ziel des Schulsystems ist es eben nicht, das Beste aus jedem Einzelnen heraus zu holen, sondern die Masse auf ein Leben als „artig arbeitender Bürger“ vorzubereiten. Aus Sicht eines Staates ja auch absolut nachvollziehbar. Ob das nun aber der perfekte Ort bzw. ein guter Ort für Wachstum für das eigene Kind ist, das muss jeder für sich selbst entscheiden.
Ja, es gibt Fälle, da sind Kinder (leider!) in der Schule besser aufgehoben als Zuhause. Aber es bleiben eben auf der anderen Seite auch viele Talente auf der Strecke.
... nicht für dieses System gemacht
Wir haben damals bereits in der Kita-Zeit erkannt, dass es unserem Kind nicht gut tut, dort zu sein. Er ist grundsätzlich gerne zur Kita gegangen, hatte Freunde, herzliche Erzieher und durfte viele tolle Erfahrungen sammeln. Aber das hatte eben auch seinen Preis: Am Nachmittag mussten wir oft mehrere Stunden co-regulieren, weil er die Dinge, die er dort gesehen, gefühlt und erfahren hat, allein nicht bewältigen konnte. Zuhause, bei uns im geschützten Raum, kamen all die zuvor angestauten Emotionen – die herunterschluckten Enttäuschungen, das Starksein, das Schweigen und Gehorchen, das Nicht-Verstehen – dann wie ein Vulkan aus ihm heraus. Einkaufen gehen am Nachmittag oder auch nur ein Spielplatzbesuch? Nicht dran zu denken!
Wir haben die Zeit in der Kita deshalb so gut wie möglich heruntergeschraubt und das Thema Fremdbetreuung im Allgemeinen zu überdenken begonnen. Auch mit seinen damals drei Jahren war uns klar, dass er für dieses System nicht „gemacht“ ist. Zu sensibel. Zu eigenwillig war er (und ist er auch heute noch). Und anstatt ihn nun für das System „gefügig“ zu machen, war die Schulpflicht ein entscheidender Faktor, warum wir uns schließlich stattdessen komplett und offiziell aus Deutschland abgemeldet haben. Denn ohne deutschen Wohnsitz gilt auch keine Schulpflicht für ihn – so hatten wir erstmal Luft zum Atmen, was die Bildungsfrage angeht und das Thema „Schule“ kreiste nicht wie ein Damoklesschwert über uns…
- Wir fragten uns: Ist ein Leben ohne Schule und Kita möglich?
Was, wenn wir so wenig arbeiten,
dass wir gar nicht auf eine Fremdbetreuung für unser Kind angewiesen sind?
Freilernen: So lernt unser Kind auf Reisen
Als wir Anfang 2021 loszogen in die Welt, war Lenni drei Jahre alt. Das Thema Schule war also noch recht fern. Wir konnten uns erstmal eingrooven in ein Leben mit weniger Arbeit, mehr Freiheit und ohne Fremdbetreuung und Arbeitsstelle, zu der man fährt. Bereits nach kurzer Zeit auf Reisen bemerkten wir:
Das Kind lernt ja ganz von allein!
Wir müssen gar nicht aktiv eingreifen, intervenieren oder irgendwas erzwingen. Eines Morgens in Albanien, neun Monate reisend waren wir damals, stand Lenni morgens auf, und sprach einfach Englisch. Wir hatten nie eine einzige Vokabel mit ihm geübt oder ihn dazu animiert – er hatte einfach durch Beobachtung gelernt, aus eigenem Antrieb heraus. Weil er bemerkte, dass er sich ansonsten auf der Welt nicht verständigen kann. Der Wille war da, der Need war da – und boom, alles weitere flowte von ganz allein. Klingt verrückt? Ist aber wahr. Was schlummert also wohl noch alles in unseren Kids, von dem wir noch keine Ahnung haben?
Seitdem wir Vertrauen gewonnen haben, dass Lernen etwas ist, das wir nicht erzwingen müssen, nutzen wir einfach die Gelegenheiten im Alltag, die sich uns bieten, um Lehren und Erkenntnisse aus ihnen zu ziehen. Das betrifft den Umgang mit Zahlen und Buchstaben ebenso wie geschichtliches, politisches, kulturelleres und philosophisches Wissen wie auch emotionale Bildung. Sei es das Lesen der Speisekarte, das Ausrechnen der Rechnungssumme, der Umgang mit verschiedenen Währungen oder Magnet-Buchstaben am Kühlschrank – Einladungen zum Lernen gibt es im Alltag tausende.
Man muss sich nur die Zeit nehmen, diese auch zu nutzen.
Und die nehmen wir uns: Jeden Tag führen wir tiefe Gespräche mit unserem Kind – natürlich altersgerecht, aber immer auf Augenhöhe. Wir hören ihm zu, schenken ihm ungeteilte Aufmerksamkeit und sprechen nicht nur über die neuesten Kids-TV-Stars, sondern eben auch über soziologische, philosophische und politische Themen. Auf eine Weise, die er versteht. Ohne, dass es ihn überfordert. Wir reagieren. Beantworten Fragen. Exakt die Fragen, die er stellt. Oftmals ist dann die Neugierde erstmal gestillt und einige Wochen später kommen die nächsten, tiefergehenden Fragen zum gleichen Thema. Kinder folgen einem tief verankerten Lernprozess aus intrinsischer Motivation. Wir müssen sie nicht animieren, zu lernen. Sie wollen von Natur aus lernen. Trust the process.
Wir versuchen, jeden Tag rund 30 Minuten bewusst zu lernen, beispielweise, indem wir ein Lernheft durchgehen, Kopfrechnen oder Buchstaben in den Sand schreiben. Das klappt oft nicht, weil uns dieses verrückte Etwas namens Leben dazwischenkommt, aber das ist vollkommen okay. Lernen läuft bei uns nebenbei. Es gibt keine festen Zeiten oder Struktur, wie „Donnerstags um 10:00 Uhr üben wir schreiben“. Bei uns ist der Prozess ganz natürlich, wir lernen wo und wie es gerade passt (das betrifft übrigens nicht nur Lenni, sondern auch uns als Erwachsene).
Wir reagieren wie gesagt auf die Dinge, die eh gerade im Kopf unseres Kindes rumgeistern: Er findet gerade Zahlen spannend? Ok, dann beschäftigen wir uns eben minuten-, stunden-, tage- oder vielleicht sogar wochenlang mit Zahlen. Katzen sind spannend? Ok, dann finden wir eben gemeinsam etwas zu Katzen heraus. Würden wir in der „Zahlen-Phase“ versuchen, die Zahlen aus dem Gehirn zu verbannen und ihm stattdessen Buchstaben einhämmern, hieße das: Viel Input für wenig Output. Auf die intrinsische Motivation zu reagieren, heißt, super wenig „reingeben“ zu müssen an Zeit und Impulsen, um beeindruckende Ergebnisse und „Aha-Effekte“ zu erzielen. In diesem Sinne geht es beim Lernen also doch auch viel ums Timing – aber Timing eben nicht an Wochentage und Uhrzeiten geknüpft, sondern an das Momentum. Und das geht nur, wenn man sehr nah dran ist an seinem Kind. Indem man es genau beobachtet und auf Bindung setzt als Motor für Wachstum.
Damit Kinder freilernen können, ist neben einer sicheren Bindung außerdem Zeit und Raum für freies Spiel nötig. Eine ungestörte Atmosphäre und ein sicherer Rahmen für Experimente sind gefragt. Eine „Ja-Umgebung“. Das freie Spiel wird in Zeiten ständiger Beschallung und konstantem Entertainment leider immer mehr zur Ausnahme statt zur Regel, dabei ist ein entscheidender Grundpfeiler im Erkenntnis- und Verarbeitungsprozess des Kindes. Bei uns gilt: Freies Spielen ist heilig. Ist Lenni tief versunken in ein (Rollen-)Spiel, dann unterbrechen wir ihn dabei nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss, sondern lassen ihn in Ruhe. Wir erwarten von ihm ja auch, dass er uns nicht unterbricht, wenn wir arbeiten – wie soll er das lernen, wenn er es selbst nicht erfährt? Und ja: Spielen ist in diesem Sinne für das Kind wie Arbeiten für uns als Erwachsene.
- Unterschätze nicht die Bedeutung des freien Spiels eines Kindes!
Dafür bedarf es nicht Tonnen an Spielzeug, ganz im Gegenteil.
Es scheint, als hätten Eltern es sich heutzutage zur Aufgabe gemacht, ihre Kids ständig zu unterhalten, sodass sie niemals Langeweile haben. Großer Fehler! Kinder müssen sich hin und wieder mal langweilen. Langeweile ist nicht nur wichtig, um Raum zu schaffen, um Eindrücke, Erlebnisse und Gefühle verarbeiten zu können, sondern auch, damit neue, kreative Ideen und Lösungsansätze geboren werden können. In diesem Sinne: Ein Hoch auf die Langeweile! Allen Eltern, die ihre Kinder aus einem durchgetakteten Tagesablauf, in dem ständig was los ist, herausholen (wollen), sei gesagt: Langeweile von Kindern ertragen mag anfangs unbequem sein. Ja, die Kids werden euch „nerven“. Aber ja: Der Weg lohnt sich. Und ist sowas von nötig und wichtig!
Also: Screen-Time reduzieren (auch für die Eltern!), weniger Spielzeug, Draußen-Zeit erhöhen und sich gegenseitig mehr ungeteilte Aufmerksamkeit schenken und immer öfters einfach mal treiben lassen, anstatt ständig einen Plan zu haben sind Schritte hin zu einem harmonischeren Zusammenleben und zu ausgeglicheneren Kids, die aus intrinsischer Motivation heraus lernen.
Lernen, zu lernen: Die Basis des Freilernens
Anstatt Faktenwissen und Auswendiglernen anzustreben, haben wir von Anfang den Fokus darauf gelegt, unserem Kind das WIE beizubringen: Wie lerne ich eigentlich?
Wir animieren ihn, selbst Antworten zu finden auf seine Fragen. Er soll Bildung von Beginn an als Hol-Schuld begreifen und nicht als etwas, bei dem man eine Person vorgesetzt bekommt, die entscheidet, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um XY zu lernen. Er soll lernen, dass er sich seine Lehrer und Mentoren selbst aussucht. Denn diese Aufgabe können (und wollen) wir als Eltern gar nicht immer übernehmen. Das hat zwei Gründe: Zum einen wäre es nicht gut für unser Kind, wenn nur wir ausschließlich seine Lehrer wären, da wir es zu sehr abhängig machen von uns. Und zum anderen wissen wir auch schlichtweg nicht alles, können also gar nicht in allen Belangen kompetente Lehrer sein.
Hat Lenni eine ganz spezifische Frage, beispielweise zum Thema „Tauchen“, auf die wir keine Antwort wissen, dann helfen wir ihm dabei, Antworten zu finden: Wir gehen in Buchläden oder Bibliotheken. Oder wir finden Personen, die eine Antwort auf die Frage haben, die also „Experten“ auf dem Gebiet sind. Und mit Experten meinen wir nicht Weltmeister ihres Fachs, sondern es reicht aus, dass derjenige mehr weiß als wir selbst, weil er beispielsweise hobbymäßig taucht. Diese Experten werden nun also zum Lehrer für unser Kind. Auf diese Weise hat Lenni bereits gelernt, dass es bei vielen Themen, vor allem wenn es um philosophische, politische oder gesellschaftliche Fragen geht, absolut spannend ist, mehrere Personen zu befragen. Denn oft gibt es kein „richtig“ und kein „falsch“ und je nach kulturellem und persönlichem Background fällt die Antwort der (selbst erwählten) Lehrer vollkommen anders aus – wichtiges Learning!
- Google als Wissensquelle nutzen wir aktuell (noch) nicht – dieser Weg ist zwar der schnellste und einfachste, aber nicht immer der beste, um an das wirklich wichtige Wissen zu gelangen. Wir fokussieren uns deshalb erstmal auf das Lernen aus Büchern und selbst erwählten Lehrern. Das Internet wird noch schneller dazu kommen, als uns lieb sein wird...
Seinen Lernort kann Lenni dabei ganz frei wählen – das kann eine klassische Schule oder eine Gruppe aus Kids sein oder auch eine Online Schule. Muss es aber eben nicht. Das kann auch im Wohnzimmer bei uns Zuhause sein. Auch hier reagieren wir, beobachten, leiten an, geben einen Rahmen vor und zeigen Möglichkeiten auf, aber lassen letztlich ihm die Wahl, wie er lernen will.
Lehrer vs. Lernbegleiter
Wie bereits angedeutet, heißt Freilernen nicht, dass wir als Eltern die Lehrer für unser Kind sind. Oftmals sind wir das. Denn Kinder lernen durch Vorbild. Eltern stehen also quasi immer und überall unter Beobachtung. Aber wir begreifen unsere Rolle in diesem Wachstumsprozess unseres Kindes eher als Lernbegleiter denn als Lehrer im klassischen Sinne: Wir liefern Raum für freies Lernen. Wir geben ggfs. Material wie Lernhefte oder ganz simpel Stift und Papier an die Hand. Wir helfen, Antworten zu finden. Aber wir sind dabei in der Rolle der Beobachter. Wir haben nicht das Zepter in der Hand und bewerten auch nicht.
Irgendwann wird eine Phase kommen, in der unser Kind uns ohnehin nicht mehr so wie noch heute als „Lehrer“ im Sinne von Vorbildern akzeptiert, spätestens in der Jugend – dessen sind wir uns bewusst. Umso wichtiger ist es, dass er bereits jetzt weiß, dass wir nicht die einzigen Personen sind, von denen er lernen kann und soll und darf.
Welches Wissen ist wirklich wichtig?
Wenn wir eines auf Reisen gelernt haben, dann, dass wir unendlich viel nicht wissen! Es gibt so viele Dinge, die man in der Schule nicht lernt, und die wir uns als Erwachsene mühsam anlesen und aneignen mussten bzw. müssen: Von Achtsamkeit und Heilung über Ernährung, Meditation, gewaltfreier Kommunikation, Philosophie und Mindset sowie Manifestation bis hin zu Themen wie Finanzen, Versicherungen und Steuern.
Lenni lernt all diese Dinge von Beginn an. Er sieht uns meditieren, ahmt uns nach. Wendet dieses Instrument erfolgreich an, um sich selbst zu beruhigen. Er lernt durch unsere Reisen einen ganz anderen Bezug zu Geld als es sesshaft lebend jemals möglich wäre – wir sind oftmals in Ländern unterwegs, in denen das Durchschnittseinkommen bei 100 Dollar pro Monat liegt. Und dann sprechen wir darüber, dass unser Mittagessen so viel kostet, dass manche eine ganze Woche dafür arbeiten müssten. Wir teilen unser Essen. Oft nimmt Lenni von sich aus die Reste seiner Portion mit und gibt sie dem Parkplatzwärter, um nur ein Beispiel zu nennen. Wir teilen unser (weniges) Hab und Gut. Wir schätzen bewusst wert.
Wir sprechen mit Lenni darüber, dass wir nicht einfach unendlich viel Geld aus den ATM ziehen können. Und wie verrückt es überhaupt ist, dass einem Stück Papier – denn nichts anderes ist ein Geldschein – so viel Wert beigemessen wird. Wir sprechen darüber, welche anderen Lösungen es gäbe.
Zum Thema Geld noch eine letzte Sache – wir sind uns sicher: Mit Geld umgehen kann man nur lernen, wenn man mit Geld umgeht. Deshalb bekommt Lenni, seitdem er sich für das Thema Geld interessiert, jede Woche Montag einen kleinen Betrag Taschengeld. Das gibt ihm ein Gefühl von Selbstbestimmung und dadurch lernt er, den Wert von Dingen deutlich besser einzuschätzen und wird kreativ, wenn ihm mal ein Euro fehlt zu etwas, dass er sich wünscht. Er beginnt, in Lösungen zu denken, anstatt in Problemen und Ausreden und sich als Opfer der Umstände zu sehen.
Ein weiteres schönes Beispiel aus der Kategorie „Welches Wissen ist wirklich notwendig“ haben wir in der COVID-Zeit erlebt: Unser Reise-Start fiel auf den Beginn des ersten Lockdowns in Deutschland – die Kita war geschlossen, alle mussten zuhause bleiben und Lennis geliebter Spielplatz war nun mit rotem Flatterband abgesperrt… Nachdem wir dann, aus diesem Setting kommend, auf Sansibar ankamen, stellten wir sofort fest, dass die Angst vor dem „Corona-Husten“, wie Lenni ihn nannte, der in Deutschland omnipräsent war, dort nicht existierte. Wir dachten, mit seinen drei Jahren hätte er ohnehin wenig bis gar nichts bewusst mitbekommen von COVID – aber Pustekuchen! Wochenlang beschäftigte er sich in Sansibar intensiv mit der Frage, wie der menschliche Körper „funktioniert“ und was dieser braucht, um gesund zu sein und zu bleiben. In dieser Zeit erlernte er auch extrem wertvolles Wissen von den einheimischen Massai über die Kraft der Pflanzen: Noch heute empfiehlt er regelmäßig anderen Menschen, die kleinere Verletzungen oder sich einen Splitter eingefangen haben, den Saft einer unreifen Papaya auf die Wunde zu reiben. „Really, beliebe me, it’s like magic Papaya is holy!“, versucht er sein Gegenüber dann mit leuchtenden Augen zu überzeugen und erzählt von seinen Erfahrungen aus Afrika.
Durch das Reisen ist sein Blick auf die Welt natürlich ganz besonders. Ihn bringt nichts so schnell aus der Ruhe und er hat viel Toleranz für die unterschiedlichsten Lebensmodelle und -formen, einfach, weil diese Vielfallt sein Alltag ist. Wir Erwachsenen mussten erst vieles an „falschem“ Wissen wieder „ent-lernen“ und nicht selten stand unsere Welt Kopf als wir bemerkt haben, dass die Dinge ganz anders sind, als zunächst angenommen und in Schule und Medien gelernt. In diesem Sinne sind wir sehr gespannt, wie der Bildungsweg unseres Reise-Kindes weitergeht und in welche Richtung er sich mal entwickelt. Wir beobachten gespannt! 🙂
- Zu guter Letzt noch ein Appell an alle Eltern: Kinder öffnen nach der Geburt ihre Augen und lernen. Ganz von allein. Sie beobachten alles ganz genau. Das „Menschsein“ lernen sie vor allem dadurch, dass sie DICH als Elternteil beobachten. DU bist ihr Vorbild. Vergiss das nie.
Links & Tipps
Wenn du für dich und dein(e) Kind(er) beim Thema freie Bildung einen Schritt weitergehen willst, vernetze dich mit Leuten wie uns, die den weg schon gegangen sind bzw. die ihn aktuell gehen. Folge beispielweise traveldoku oder haendchen_in_hand bei Instagram. Es gibt zu dem Thema vor allem international extrem viel Content, weil das Freilernen bzw. Homeschooling außerhalb Deutschlands viel weiter verbreitet ist, als man anfangs denken mag. Wirf auch mal einen Blick in Gruppen zu dem Thema bei Facebook, um dich einzulesen. Und wer spezielle Experten für ein Gebiet sucht, wird auf der Lehrer-Plattform Preply für wenig Geld fündig.
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Kathi Wuttke
Hallo, Welt. Ich bin Kathi. Jahrgang 1991, optimistische Weltverbesserin und Herzblut-Mama eines aufgeweckten Jungen. Mein Herz schlägt außerdem für Yoga, leckeres Essen, tiefe Gespräche und gute Texte – egal, ob lesend oder selbst zu Papier bringend. Ursprünglich komme ich aus Osnabrück im Norden Deutschlands, wo ich Marketing & Kommunikation studiert habe. In 2021 bin ich aufgebrochen in die Welt. Auf unbestimmte Zeit. Mit unbestimmtem Ziel. Seitdem bereisen wir als Familie die Welt und ich darf an diesen Erfahrungen wachsen. Ich lade Dich ein, uns ein Stück auf unserer Reise zu begleiten. Schön, dass Du da bist.